Keine Zukunft für Großunternehmen?

Eine interessante Diskussion führte ich vor einigen Wochen mit einem Kollegen – wird es Großkonzerne und Unternehmen mit Zehn- oder gar Hunderttausenden von Mitarbeiter in 10, 20 Jahren noch geben? Ausgelöst durch dieses Gespräch, indem wir über die Möglichkeiten der Arbeit durch das Web 2.0, den zukünftigen Arbeitskräftemangel und die fehlende Nähe von (Top-) Managern in großen Unternehmen zu den Inhalten ihres Tagesgeschäftes diskutierten, fing ich an, mich mit diesem Thema intensiver auseinander zu setzen.

Gefährliche Entwicklungen für Großunternehmen

Ein mit der immer weiter fortschreitenden Globalisierung von Unternehmen wachsendes Problem ist aus meiner Sicht die Bewältigung der damit einhergehenden Komplexität. Die Unternehmen stoßen in immer mehr Länder vor. Während der Aufbau in Asien und den BRIC-Ländern (Brasilien, Russland, Indien und China) noch lange nicht abgeschlossen ist, so wird schon in Richtung weiterer Wachstumsmärkte wie Afrika oder Südamerika geschaut. Um bei der gegenwärtig noch geringen Kaufkraft in diesen Märkten wettbewerbsfähig zu sein, wird die Produktion in einem der neuen Zielländer oder einem anderen Billiglohnland aufgebaut. Alleine durch die dabei erweiterte Matrixorganisation erhöht sich die Komplexität – schließlich gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Einkaufsleiter in dem Zielland, der sowohl an seinen Ländervorgesetzten berichtet als auch an den Einkaufsverantwortlichen in der Zentrale. Dieser zentrale Einkaufsverantwortliche hat dann folgerichtig zunehmend mehr und mehr regionale Einkaufsverantwortliche mit zunehmender Internationalisierung seines Unternehmens zu führen.

Ein anderer aktueller Trend ist, dass immer mehr Menschen wieder „inhaltlich“ arbeiten wollen – als Folge des durch die steigende Komplexität der Organisation aufkommenden Umfangs von bürokratischen und Verwaltungsaufgaben. Ab welcher Ebene in großen Unternehmen und Konzernen sind die Manager so weit weg von den Projekten, Produkten und Technologien ihrer Verantwortungsbereiche, dass sie davon zwangsläufig nur noch wenig verstehen und hauptsächlich durch Verwaltungsaufgaben gebunden sind? Durch Matrixorganisationen, immer weiter fortschreitende Globalisierung des Handels, der Unternehmen und dadurch auch der Verantwortung des einzelnen Managers werden zwangsläufig die reinen Steuerungsaufgaben immer komplexer und umfangreicher.

Auch wenn es nicht allgemeingültig ist, so kann man wahrscheinlich schon von einer Bewegung, vielleicht sogar einer Tendenz auch im obersten Management davon sprechen, wenn sich die dort Tätigen wieder nach mehr inhaltlicher Arbeit sehnen und die Konsequenzen ziehen. Der Schritt von René Obermann, dem noch Telekom-Vorstandsvorsitzenden, der als Beweggrund für seinen freiwilligen Rückzug von der Spitze des Konzerns anführte, dass er „wieder mehr Zeit für Kunden, Produktentwicklung und Technik haben [will]“, siehe zum Beispiel ein Artikel in der WAZ. Oder um nur eines der zahlreichen in der Presse zu findenden anderen Beispiele zu zitieren: Michael Schipper, der eine eigene (Werbe-) Agentur, die Schipper Company, gründete, weil er selber wieder freier arbeiten wollte. Künftig wolle er „wieder dichter am Kunden und wirklich wieder an Kampagnen arbeiten“. (Quelle: Handelsblatt vom 25.06.2013)

Neue Machtverhältnisse, aber auch neue Lösungsmöglichkeiten

Eine der zentralen Fragen für mich ist dabei, inwieweit die Unternehmen zukünftig überhaupt noch eine freie Wahl haben – können sie genügend Mitarbeiter rekrutieren, die mit den oben beschriebenen Rahmenbedingungen umgehen können und wollen, mit der steigenden Komplexität und zunehmenden Bürokratisierung gerade in Großunternehmen? Eine der wesentlichen Prognosen für die Zukunft ist, dass der immer stärker werdende Mangel an qualifizierten Arbeitskräften die Machtverhältnisse verschieben wird. Mitarbeiter können sich Arbeitsplätze nach ihrer Vorstellung suchen, die Unternehmen werden zunehmend den Wünschen und Vorstellungen der Mitarbeiter entgegenkommen (müssen), wenn sie diese für sich gewinnen beziehungsweise halten wollen.

In einer Studie von Genesis Research Associates für das Unternehmen oDesk, wurden knapp 3.200 Freelancer weltweit befragt (davon allerdings 2.000 Millenials, also zwischen 19 und 30 Jahren alt), von denen 72% heute einen „nine-to-five Standardarbeitstag“ haben, aber angaben, dass sie diesen beenden wollen, davon 90%, weil sie arbeiten möchten, wann und wo sie wollen. Matt Cooper, Vice President Enterprise und International von oDesk, einem Unternehmen rund um die Arbeit mit Freelancern und einer Plattformen zur Vermittlung und zur Steuerung von Freelancern, spricht bereits von „fluiden Arbeitsverhältnissen“, die durch Mitarbeiter entstehen, die im Zeitverlauf ihre Jobs „fließend wechseln“, siehe The future of work: a freelance economy. Auch wenn man Zeitungen und Zeitschriften aufschlägt, in denen über die technischen Möglichkeiten und die Zukunft der Arbeit berichtet wird, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es in der Zukunft nur noch Selbstständige und Freiberufler gibt.

Wie reagieren die Unternehmen aktuell auf diese Entwicklungen, wie können sie reagieren? Eine Möglichkeit ist die Reduktion der Komplexität – so hat der Siemens-Konzern unter der Führung seines neuen Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser mit der Begründung für eine Vereinfachung der eigenen Struktur die Auflösung der Cluster verkündet, die die Schnittstelle und der Sammelpunkt mehrerer Länder einer Region zur Unternehmenszentrale waren. Damit will Siemens „sich einen besseren Kundenzugang verschaffen“ sowie „einfacher und marktnäher“ aufstellen, wie das Handelsblatt berichtet.

In einem von Citrix GoToMeeting gesponserten Webinar berichtete Ibrahim Evsan von der aktuell immer größer werdenden „Gefahr für Unternehmen, dass sie ihre Mitarbeiter verlieren, weil diese feststellen, dass sie sich [Anmerkung: durch die neue Welt / soziale Medien] besser positionieren können“, die Verschiebung der jahrelange Tätigkeit für ein und denselben Arbeitgeber hin zu fluiden Arbeitsverhältnissen hat, wie wir alle beobachten können, bereits begonnen.

Mit der Globalisierung sowie den Möglichkeiten des Internets und der virtuellen Zusammenarbeit wird sich hier in der Zukunft (weiterhin) viel ändern. Was wir heute schon aus technologischer Sicht als „Common Sense“ sehen ist, dass durch die neuen Medien und Technologien die Bedeutung von Hierarchie sinkt, während die der Netzwerke gewinnt, Netzwerke auch von (mehr und mehr) gleichberechtigten Partnern.

Zwei Unternehmenstypen als Pole der Entwicklung


Eine interessante Perspektive stellt Sven Gábor Jánszky (mit Lothar Abicht) in seinem Buch „2025, so arbeiten wir in der Zukunft“ vor. Sie geht von letztendlich zwei verschiedenen Unternehmenstypen, die sich als Pole herauskristallisieren, aus. Eine Entwicklung, die wir schon heute in der Unternehmenswelt sehen und sich mir durchaus als sehr wahrscheinlich erschließt. Der eine Pol sind die „fluiden Unternehmen“, der andere Pol die sogenannten „Caring Companies“ (ein Begriff, der von der Fraunhofer Gesellschaft geprägt wurde).





Die fluiden Unternehmen

Die fluiden Unternehmen setzen diesen Trend der selbstständigen Projektarbeiter fort. Gerade in den Branchen der Wissensarbeiter, wie zum Beispiel der Softwareentwicklung, ist seit langer Zeit der Einsatz selbständiger Mitarbeiter – sei es als nicht intern vorhandene Spezialisten auf einem Gebiet oder als Unterstützung für Auslastungsspitzen in bestimmten Projektphasen – üblich. Nach meiner Wahrnehmung sehen wir seit einigen Jahren eine verstärkte Tendenz dieses Einsatzes von externen, selbstständigen Mitarbeitern. Die fluiden Unternehmen setzen diesen Trend fort und kehren die zahlenmäßigen Verhältnisse zwischen intern und extern quasi um – bei ihnen gibt es nur noch einen engen Kreis an festen internen Mitarbeiter. Um sie herum arbeiten quasi als Korona externe Mitarbeiter projektspezifisch für eine bestimmte Zeit lang für das Unternehmen. Die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen bzw. internen Mitarbeitern und externen Mitarbeitern ist geprägt von Transparenz und Zuverlässigkeit als beidseitige Motivation für die Zukunft. Unternehmen wollen langfristig und auch für zukünftige Projekte attraktiv für Projektmitarbeiter sein, die ihrerseits wiederum für zukünftige Projekte attraktiv und flexibel für dieses und andere Unternehmen einsetzbar bleiben wollen. Beides bedingt eine gegenseitige Abhängigkeit der Unternehmen und Projektmitarbeiter voneinander.
Laut dem Artikel Frei schwebend in der Wolke im Spiegel 6/2012 hat mit IBM schon ein Großunternehmen mit dem Programm „Liquid“ angekündigt, sich in Richtung dieser fluiden Beschäftigungsverhältnisse zu entwickeln. Dort ist die Rede von einer Kernbelegschaft „zur Aufrechterhaltung der Kundenbeziehungen“, einer möglichst kleinen Gruppe von Festangestellten, die das Unternehmen zukünftig steuern und managen soll.

Die Caring Companies

Auch die Anfänge der Caring Companies sehen wir seit vielen Jahren. Ziel dieser Form von Unternehmen ist es, die Mitarbeiter langfristig an sich zu binden. Dies geschieht durch eine Ausweitung der Angebote für die Mitarbeiter über die eigentliche Tätigkeit bzw. Arbeit hinaus. Der Mitarbeiter wird entlastet, er empfindet die Angebote als angenehm, bequem und verspürt eine gewisse Verantwortungsübernahme des Unternehmens für sein Wohlergehen, ähnlich wie es ein Familienoberhaupt tut.

Während erste Schritte wie Betriebskantinen oder -kindergärten schon vor Jahrzehnten getan wurden, kommt hier nach einer längeren, eher von Stillstand geprägten Phase wieder Bewegung hinein. Vor Jahren zu Zeiten der Internetblase um die Jahrtausendwende begonnen, sind es aber auch heute noch vornehmlich Internet- und Softwareunternehmen, die Tischfußballspiele, kostenlose Obstsäfte oder Massagen anbieten. Google ist mit den Einrichtungen, die es seinen Mitarbeitern zur Verfügung stellt, als ein Vorbild für diese Caring Companies aktuell in aller Presse, siehe zum Beispiel Office Snapshots. Auch Marissa Mayer hat mit ihrer Ankündigung die Telearbeiter wieder zurück ins Firmenbüro zu ordern die Diskussion um einen zentralen Arbeitsplatz im Unternehmensgebäude befeuert und mit zusätzlichen Angeboten wie kostenlosem Mittagessen Yahoo als ein weiteres Vorbild für die Caring Companies in Position gebracht.

Mit der immer schnelleren und intensiveren Überschneidung von Arbeit und Beruf (Stichwort „Always on“) steigt der Anspruch der Arbeitnehmer beziehungsweise wird das Angebot der Arbeitgeber umfangreicher. Laut der Autoren Sven Gábor Jánszky und Lothar Abicht wird sich dies zukünftig auch in den Bereichen des Wohnens, der Familienplanung, der Freizeitgestaltung und der Gesundheit fortsetzen. Das Ergebnis könnten Unternehmen sein, die wie heutige Staaten oder Regierungen agieren, mit eigenen Wohnvierteln, Schul-, Bildungseinrichtungen und Einrichtungen für Gesundheit und Freizeit. Die natürlich auch für diese Unternehmen vorliegenden Schwankungen der Auslastung zum Beispiel durch Projektspitzen gleichen sie weniger durch externe als vielmehr durch flexible Arbeitszeitmodelle für interne Mitarbeiter (wie Lebensarbeitszeit, Sabbatical und Weiterbildungszeiten im Rahmen des lebenslangen Lernens) aus.


Takeaways

  • Steigende Komplexität durch Wachstum & Globalisierung oder zunehmende Steuerungstätigkeiten (ohne Produktnähe) für die Mitarbeiter sind gefährliche Entwicklungen für Großunternehmen
  • Gleichzeitig lassen zunehmende technische Möglichkeiten für individuelle Arbeitsgestaltung Arbeitnehmer-Wünsche wachsen
  • Zu erwartender Arbeitskräftemangel stärkt die Position der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern
  • Konzerne und Großunternehmen können dem entgegensteuern, indem sie ihre Strukturen, Abläufe und Prozesse überdenken und vereinfachen – viele Mitarbeiter wollen flexibler arbeiten oder näher an die Kunden heran
  • Wir sehen zwei verschiedene Entwicklungen bei Unternehmensformen: die fluiden Unternehmen und die Caring Companies
  • Konzerne wie IBM entwickeln sich in Richtung der fluiden Unternehmen, die Wert auf eine starke Kernmannschaft legen, die eine große Menge an externen Projektmitarbeitern bedarfsgetrieben steuert
  • Großunternehmen wie Google streben umfangreiche Versorgungen und Unterstützungen in ihren Bürogebäuden an, damit die Mitarbeiter dort gerne und viel vor Ort arbeiten. Beschäftigungsschwankungen werden durch flexible Arbeitszeitmodelle ausgeglichen

Der Konzern an sich wird also nicht aussterben, aber die zukünftigen Entwicklungen werden unterschiedlich verlaufen und jedes Unternehmen muss für sich, seine Produkte und seinen Unternehmensgeist die richtige Marschroute entwickeln. In beiden Fällen aber können Mitarbeiter ihre Vorstellungen von flexibler Arbeit, wenn auch auf verschiedenem Wege, realisieren.



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